
Mythische Misteln, uralte Medizinpflanze und neuerdings auch ein Rätsel für Biologen
Rätselhafte Misteln – eigentlich dürften sie gar nicht existieren
12. Mai 2018 | Medizin | Natur | Umwelt | Wissenschaft | Forschung | connectiv.events
Dem Halbparasiten fehlen Enzyme, ohne die ein mehrzelliger Organismus normalerweise gar nicht leben kann.
Die Mistel (Viscum album) ist eine ganz besondere Pflanze. Wir hängen sie im Winter zur Weihnachtszeit über unsere Tren und die Paare sollen sich darunter küssen. Die meisten wissen heute gar nicht mehr warum. Es ist ein Relikt eines alten Fruchtbarkeitskultes. Unsere Vorfahren haben in der Mittwinternacht, in der kürzesten Nacht des Jahre, die Wiedergeburt des Lichtes und damit des Lebens mit einem großen Fest gefeiert. dabei ging es dann des Nächstens auch recht körperlich und berauscht zu: Die Paare schliefen miteinander um auch in genau dieser Nacht neues Leben zu zeugen. Dazu wurden Misteltränke zubereitet. Die immergrüne Pflanze galt als heiliges und hochwirksames Heilmittel. Wir alle kennen aus Asterix und Obelix den Druiden Miraculix, der mit weißem Gewand und Rauschebart mit seiner goldenen Sichel die Misteln für den ZAubertrank schneidet.Heute forscht man wieder genauer nach und stellt fest, dass die Mistel tatsächlich hochwirksame Stoffe enthält. Die Mistel wird schon lange von der Naturheilkunde in der Krebstherapie angewendet.
Bei der Erforschung der eigenwilligen Pflanze haben Biologen eine sehr erstaunliche Entdeckung gemacht.
Die Mistel „funktioniert“ ganz anders, als alle anderen Tiere und Pflanzen
Wer ein bißchen was über Pflanzen und deren Stoffwechsel weiß, der kennt die Photosynthese der Pflanzen. Das grüne Chlorophyll in den Pflanzen kann durch Sonnenlicht und Kohlendioxid den Körper der Pflanzen aufbauen, wobei Sauerstoff frei wird. Aber es finden auch andere Atmngsprozesse in den Pflanzen statt, die denen von Tieren (und Menschen) nicht unähnlich sind. Die Biologen nennen das „Zellatmung“. Dabei entsteht aus einem Zucker (Glukose) und Sauerstoff Kohlendioxid und Wasser.
Eine Gruppe von Forschern an der Leibniz Universität Hannover um Prof. Hans-Peter Braun und Dr. Jennifer Senkler vom Institut für Pflanzengenetik hat sich nun mit der Mistel und ihren besonderen Eigenschaften befasst. In Zusammenarbeit mit der Medizinischen Hochschule Hannover untersuchten sie die „Atmung der Mistelpflanze“ und staunten nicht schlecht: Die Mistel atmet komplett anders als alle andere Pflanzen und Tiere.
Ein Komplex an Enzymen, den Wissenschaftler bis jetzt als lebensnotwendig für die Zellatmung vielzelliger Lebewesen gehalten haben, den so genannten NADH-Dehydrogenase-Komplex („Komplex I“ der Atmung), fehlt bei der Mistel komplett. „Man dachte bislang, dass höheres Leben ohne diesen Enzymkomplex nicht möglich ist“, erklärt Hans-Peter Braun. Die bisherigen Forschungsergebnisse wurden im amerikanischen Fachjournal „Current Biology“ publiziert und werden in der Fachwelt mit großem Interesse diskutiert.
Die Gene dafür sind einfach nicht mehr da
„Die Mistel ist ein skurriler Organismus“, sagt Pflanzenbiochemiker Braun. Der Halbparasit Mistel ist in großen kugelförmigen Gewächsen auf fast allen in Mitteleuropa einheimischen Bäumen zu sehen. Sie entzieht den Bäumen Wasser, Nährstoffe und Mineralien. Manche Bäume sind regelrecht voll mit den lockeren, grünen, kleinblättrigen Bällen mit ihren weißen Beeren. EIne zu große Besiedelung mit Misteln kann einem Baum jedoch zuviele Nähstoffe entziehen und er stirbt ab. Als Halbparasit wird sie klassifiziert, weil sie neben dem „schmarotzen“ doch auch eine eigene Photosynthese ausübt, daher ist sie grün. So kann sie sich viele wichtige Nährstoffe selber herstellen.
Die Mistel hat tatsächlich den gesamten „Komplex I“ aus ihrem Genom gelöscht. Außerdem sind von zwei weitere Bauplänen für wichtige Enzymkomplexe der Atmungskette nur noch Reste im Genom vorhanden. „Ein solcher Verlust wurde zuvor nur bei einzelligen Eukaryoten beobachtet. Dies ist der erste Fall eines mehrzelligen Organismus, der auf diese Weise einen Großteil seiner Zellatmung verloren hat.“ sagt Braun und fügt hinzu: Wir waren daher definitiv überrascht, dass die Mistel ohne diese Komplex überleben kann.“
Die Medizin interessiert sich für den Sonderling
Das Fehlen dieses „Komplexes I“ erzwingt aber eine völlige Umstellung der Atmungskette in der Mistel. DAs Verstehen und Erforschen dieser Anpassungen ist für die Medizin, insbesondere die HUmanmedizin enotm interessant, weil sie viel über Fehlfunktionen in der Atmungskette bei Mensch und Tier lehren kann. „Beim Menschen haben schon winzig kleine Beeinträchtigungen des Komplexes I drastische Auswirkungen“, sagt Braun. Unheilbare Erkrankungen wie etwa Parkinson oder das Leigh-Syndrom haben mit Störungen des „Komplexes I“ zu tun. Insgesamt sind an der Atmungskette vier Enzymkomplexe beteiligt. Die Zellatmung spielt sich im Cytoplasma und in den Mitochondrien der Zelle ab und ermöglicht die Bildung der energiereichen Verbindung Adenosintriphosphat (ATP).
Über das Wie und Warum, darüber können auch die Forscher nur rätselraten. „Möglicherweise benötigt die Mistel weniger Zucker, weil sie langsam wächst und kein eigenes Wurzelsystem unterhalten muss“, vermuten Braun und seine Kollegen. „Unser Verständnis der Mistelpflanze und ihres Parasitismus ist bisher noch unvollständig“.
Quelle: https://www.cell.com/current-biology/fulltext/S0960-9822(18)30365-8
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